Auszug aus FAZ vom 3. Juni 2006
Was sind „neue Tatsachen“?
Der Schweriner Untersuchungsausschuß zum Mordfall Carolin beendet seine
Arbeit / Von Frank Pergande
SCHWERIN, 2.Juni
Die Beweisaufnahme im parlamentarischen Untersuchungsausschuß zum Fall Carolin in Mecklenburg-Vorpommern ist beendet. Als letzter war der Justizminister des Landes, Erwin Sellering (SPD), vorgeladen. Derzeit wird am Abschlußbericht gearbeitet. Er soll noch auf der letzten Sitzung des Schweriner Landtages in diesem Monat behandelt werden. Am 17.September wird einneuer Landtag gewählt.
Minister Sellering wußte, was er dem Untersuchungssausschuß schuldig ist. Er lobte dessen Arbeit. So seien durch den Ausschuß Schwachstellen in der Justiz aufgedeckt worden, so in der Zusammenarbeit von Gerichten, Staatsanwaltschaft und Justizvollzugsanstalten. Der Minister sagte, vor allem in der sogenannten Führungsaufsicht, also in der Betreuung und Kontrolle aus der Haft Entlassener, werde es Veränderungen geben. Bislang sei dieses Instrument oft nur ein „zahnloser Tiger“ gewesen. Sellering sagte weiterhin zu, dass die Sozialtherapie neu organisiert werde. So werde nicht nur die Leitung ausgetauscht, sondern es sollten künftig auch mehr Psychologen und Sozialtherapeuten in der erst vor kurzem eröffneten Sozialtherapie in der Justizvollzugsanstalt Waldeck helfen. Und wer eine Strafe mehr als vier Jahre erhalte, solle bei Antritt der Haft gründlicher als bisher untersucht werden, um herauszubekommen, wie gefährlich der jeweilige Täter wirklich ist.
Ganz anders als Sellering war zuvor Mecklenburg-Vorpommerns Generalstaatsanwalt Uwe Martensen vor dem Ausschuß aufgetreten. Bei seiner ersten Befragung hatte er von einer „billigen Nummer“ gesprochen. Ihn ärgerten besonders die scharfen angriffe gegen jene Staatsanwältin aus Stralsund, welche die Entlassung von Carolins späterem Mörder Maik S. bestätigt hatte und seit dessen Tat sogar unter Polizeischutz gestellt werden musste.
Bei der zweiten Befragung war Martensen dann vorsichtiger und zugänglicher. Seine Kritik am Ausschuß hätte ihn aber wohl dennoch die Position gekostet, zumal auch sein Verhältnis zum Minister als nicht besonders gut gilt. Aber Martensen geht in wenigen Wochen ohnehin in den Ruhestand. Eines allerdings wurde vor dem Ausschuß vom Minister wie auch vom Generalstaatsanwalt abermals bestätigt: Die Entlassung von Maik S. aus dem Strafvollzug war juristisch nicht zu verhindern gewesen.
Maik S. hatte seit 1998 nach einer Sexualstraftat sieben
Jahre lang im Gefängnis gesessen. Dann kam er frei, obgleich er nach wie vor
als sehr gefährlich galt und sich allen Versuchen einer Therapie entzogen
hatte. Er war nur wenige Tage in der Freiheit, da vergewaltigte er in der
Rostocker Heide nahe seinem Heimatort Gelbensande am helllichten Tag das
sechzehn Jahre alte Mädchen Carolin und erschlug es anschließend. Inzwischen
ist der Mörder zu lebenslanger Haft verurteilt und wird nicht mehr freikommen,
denn das Gericht ordnete erwartungsgemäß anschließende Sicherungsverwahrung an.
Sicherungsverwahrung ist allerdings nach gegenwärtiger Rechtsprechung erst dann
möglich, wenn der Täter eine zweite Tat begangen hat. Vorwenigen Tagen erst hat
Bayern auf Anregung der Justizministerin Beate Merk (CSU) dem Bundesrat eine
Gesetzesinitiative unterbreitet, nach der künftig nachträgliche
Sicherungsverwahrung schon nach der ersten Tat angeordnet werden könnte. Das
ist zwar eigentlich auch jetzt schon möglich, aber nur dann, wenn sich in der
Zeit der Haft „neue Tatsachen“ ergeben haben, die bei der Verurteilung dem
Gericht unbekannt waren. Eine länger zurückliegende Straftat könnte das sein.
Mecklenburg-Vorpommern hat Frau Merk zwar unterstützt, glaubt aber nicht an den Erfolg der Initiative. Die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes habe hohe Hürden vor eine nachträgliche Sicherungsverwahrung nach der ersten Tat gesetzt. Sellering wirbt vielmehr für eine Gesetzesänderung, die es möglich macht, bei erkannter Gefährlichkeit des Täters schon bei Urteil anschließende Sicherungsverwahrung anzuordnen. Gemeint sind dabei Täter, die ungeachtet aller Brutalität, Kaltblütigkeit und Wiederholungsgefahr als gesund gelten, also nicht in den Maßregelvollzug kommen.
Im Untersuchungsausschuß nun war immer über die „neuen Tatsachen“ gesprochen worden, die bei Mail S. Sicherungsverwahrung vielleicht doch noch hätte möglich machen und so den Mord an Carolin hätten verhindern können. War es eine solche neue Tatsache, dass Maik S. sich der Therapie entzog und immer wieder durch kleine Auffälligkeiten in der Haft auffiel? Oder war es schon eine neue Tatsache, dass Maik S. in der Haftzeit älter geworden sei, wie ein Gutachter sogar vorschlug? All diese Aussagen aber wurden in Kenntnis der grausamen Tat gemacht.
Zweifellos hat
Carolins Tod eine Gesetzeslücke offenbart. ….
Bericht der
Ostsee-Zeitung, Copyright liegt bei der OZ!
Montag, 22. Mai 2006 | Mecklenburg-Vorpommern
CDU
fordert erneut Entlassung von Martensen
Schwerin (OZ/kw) Der politische Streit
zwischen SPD und CDU im Untersuchungsausschuss zum Mordfall Carolin wird immer
bizarrer. Nach der erneuten Vernehmung des Generalstaatsanwaltes Uwe Martensen
am Freitag (OZ berichtete) forderte der CDU-Obmann im Ausschuss, Ulrich Born,
am Wochenende die Entlassung von Martensen.
Die bis in die
späten Abendstunden geführte Vernehmung habe „massive Abstimmungsmängel
zwischen Staatsanwaltschaft, Justizbeamten und Polizei“ offenbart. Außerdem
seien Probleme bei der Umsetzung des neuen Rechts zur nachträglichen
Sicherheitsverwahrung weder erkannt noch abgestellt worden. Der
Generalstaatsanwalt, der dafür verantwortlich sei, müsse entlassen werden,
forderte Born.
Der SPD-Obmann im
Ausschuss, Bodo Krumbholz, brach seinerseits die
Zeugenvernehmung eines von der CDU-Fraktion vorgeschlagenen Sachverständigen
ab. Der Vorwurf: Der Rechtswissenschaftler Volker Krey
aus Trier sei vor der Vernehmung „gebrieft“ worden.
„Hier sind Unterlagen ohne Wissen des Ausschusssekretariats an einen
Sachverständigen herausgegeben worden“, kritisierte Krumbholz.
Dies sei ein eklatanter Verstoß gegen das Untersuchungsausschussgesetz. Es
müsse geprüft werden, ob die Aussage von Frey überhaupt noch verwertbar sei.
Der Ausschuss
kommt am Mittwoch erneut zusammen. Mit Spannung erwartet wird die Aussage von
Justizminister Erwin Sellering (SPD).
Wochenendausgabe, 20. Mai
2006 | Mecklenburg-Vorpommern
„Nicht
alle Täter sind therapierbar“
Nach Ansicht von Generalstaatsanwalt Uwe Martensen hatte die Justiz keine
Chance, den Mordfall Carolin im Vorfeld zu verhindern.
Schwerin (OZ) Wenig Neuigkeiten, dafür viele bittere Wahrheiten förderte
der Parlamentarische Untersuchungsausschuss zu Vorfällen in der Justiz (Carolin-Ausschuss)
gestern zu Tage. Ein Psychotherapeut bezeichnete die Therapie von
Strafgefangenen als „problematisch“, die Generalstaatsanwaltschaft in vielen
Fälle als unmöglich, zudem lasse die Belastung der Staatsanwälte es gar nicht
zu, dass jeder Fall genau geprüft werde.
Der Reihe nach:
Politischen Spannungen lagen in der Luft, als der Ausschuss gestern
zusammentrat. Die erneute Vernehmung von Generalstaatsanwalt Uwe Martensen
stand an. Er hatte bei seiner letzten Vernehmung dem Gremium die Kompetenz abgesprochen.
Der Ausschuss reagierte: Er unterbrach die Vernehmung und schickte Martensen
nach Hause.
Der quetschte
sich gestern so etwas wie eine Entschuldigung ab: Er habe gar nicht die
Abgeordneten im Ausschuss gemeint, da sei er falsch verstanden worden. In
seinem Vortrag war Martensen deutlicher: „Es ist eine Illusion, die den Bürgern
immer wieder vermittelt wird, dass alle Straftäter therapierbar sind“, sagte er
und räumte Unzulänglichkeiten in der Zusammenarbeit zwischen
Justizvollzugsanstalten (JVA) und Staatsanwaltschaft ein. Das Problem: Soll ein
Straftäter aus der Haft entlassen werden, ist sechs Monate vor dem Termin eine Prüfung auf die „nachträgliche Sicherheitsverwahrung“
vorgeschrieben. Gibt es Hinweise, die eine weitere Verwahrung rechtfertigen
könnten muss die JVA die Staatsanwaltschaft informieren, die dann das Verfahren
einleitet. „Der Fall Maik S. ist der erste Fingerzeig, dass das so nicht
funktioniert“, sagte Martensen. Zudem habe die Staatsanwaltschaft Schwerin im
Nachhinein auf eigene Initiative Akten geprüft, und zwei weitere Fälle
entdeckt, bei denen die JVA hätten informieren müssen. Doch auch die
Staatsanwaltschaft sei „gar nicht in der Lage“, jede Akte zu prüfen. Martensen:
„32 Anwälte in Stralsund bearbeiten 11 000 Akten pro Jahr.“
Egal wie:
Martensen sieht keine Möglichkeit, mit der Maik S. nach Verbüßung seiner Strafe
hätte in Haft gehalten werden können. Seine Gefährlichkeit war bekannt; sie sei
„so hoch wie die von vielen anderen Straftätern“ auch.
Zuvor hatte ein
Psychotherapeut der JVA Bützow, Michael Köpke, die
Therapie von Straftätern als problematisch geschildert. Ein
Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Therapeut komme selten zustande, bei
der Arbeit seien beide „in ein Korsett gezwängt“. Der Bedarf an Therapie werde
nicht abgedeckt, viele Kollegen mieden die Arbeit mit Straftätern als „nicht
erstrebenswert“.
Dass der
Ausschuss ein politisches Gremium aus Oppositions- und Regierungsparteien ist,
wurde erneut klar: Die SPD wertete das gestrige Ergebnis als „nichts Neues“,
die CDU witterte in fast jedem Detail einen neuen Skandal.
Die 16-jährige
Carolin war im Juli 2005 vergewaltigt und ermordet worden. Ihr Mörder, der
29-jährige Maik S. aus Gelbensande, war erst wenige Tage vor dem Verbrechen aus
der Haft entlassen worden. Er hatte sieben Jahre wegen Vergewaltigung
abgesessen.
KLAUS WALTER
Mittwoch, 17. Mai
2006 | Mecklenburg-Vorpommern
Justizminister
düpiert Carolin-Ausschuss
Im Carolin-Ausschuss droht neuer Ärger: Justizminister Erwin Sellering (SPD) schreibt dem Ausschuss vor, wie er zu
verhören sei. Bereits Anfang Mai sorgte Generalstaatsanwalt Martensen für
Aufsehen.
Schwerin (OZ) Der Rauch ist noch gar nicht verzogen: Erst Anfang Mai
hatte der Generalstaatsanwalt des Landes, Uwe Martensen einen Eklat provoziert,
indem er dem „Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Klärung von
Sachverhalten im Bereich der Justiz“ (Carolin-Ausschuss) die Kompetenz
absprach, als „politische Aktion“ und „billige Nummer auf den letzten Schützen“
beschimpfte (OZ berichtete).
Jetzt sorgt ein
Brief von Justizminister Erwin Sellering (SPD) an den
Ausschussvorsitzenden Klaus Mohr (SPD) für neuen Unmut. In dem Brief, der OZ
vorliegt, schreibt der Minister dem Ausschuss vor, in welcher Art und Weise er
zu vernehmen sei. In Bezug auf seine am 24. Mai bevorstehende Aussage schreibt Sellering: „Ich weise schon jetzt vorsorglich darauf hin,
dass ich es als Beeinträchtigung meiner Rechte als Zeuge ansehen würde, wenn
ich dabei durch Anmeldung von Beratungsbedarf, Geschäftsordnungsanträgen o.ä. unterbrochen würde.“
CDU-Fraktionschef
Armin Jäger wertet das als Vorgabe, dass dem Ausschuss keine Zwischenfragen
erlaubt seien, wie sie in anderen Vernehmungen durchaus üblich wären. „Wenn ein
Zeuge dies einem ordentlichen Gericht anbieten würde, möchte ich nicht den
Vorsitzenden Richter erleben“, sagte Jäger. Im Fall Sellering
handele es sich erneut um eine „eindeutige Missachtung der Rechte und der
Pflicht des Parlaments“, die Landesregierung zu kontrollieren. Es spreche von
einem völlig falschen Demokratieverständnis des Ministers, wenn er dem Souverän
vorschreiben wolle, wie er zu verfahren habe.
Unterdessen hat
sich der Vater der ermordeten Carolin, Jörg Scholz, im Vorfeld der
Ausschusssitzung am 19. Mai zu Wort gemeldet. „Wir stehen als Eltern hinter dem
Untersuchungsausschuss und wünschen uns, dass in der Aufarbeitung der
Verfehlungen der Justiz in Mecklenburg-Vorpommern Konsequenzen gezogen werden,
die eine Wiederholbarkeit minimieren“, erklärt Scholz.
Die 16-jährige Schülerin aus dem Ostseebad
Graal-Müritz (Landkreis Bad Doberan) war am 15. Juli 2005 von Maik S. (29) aus
Gelbensande in der Rostocker Heide vergewaltigt und auf brutalste Weise
ermordet worden. Der Täter war nach siebenjähriger Haftstrafe wegen schwerer
Vergewaltigung erst eine Woche vor der grausamen Tat aus dem Gefängnis
entlassen worden.
KLAUS WALTER
Donnerstag, 11. Mai
2006 | Mecklenburg-Vorpommern
Carolin-Ausschuss
offenbart Fehler bei Sozialtherapie
Schwerin (ddp) Die Sozialtherapie in MV ist nach Angaben des
Abteilungsleiters für Justizvollzug, Soziale Dienste und Gnadenwesen in den
letzten Monaten vor der Haftentlassung des spätere Mörders von Carolin noch im
Aufbau gewesen. Der Mann sei damals nicht der einzige gewesen, der weniger als
die empfohlenen 18 Monate an einer Sozialtherapie teilgenommen habe, sagte Jörg
Jesse gestern vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Mordfall
Carolin in Schwerin. Es habe zwischen 30 und 40 andere Inhaftierte gegeben, die
kürzer als anderthalb Jahre an einer Sozialtherapie teilgenommen hätten. Ein
neues Justizvollzugsgesetz, das 18 bis 24 Monate empfehle, sei am 1. Januar
2003 in Kraft getreten. Ein als Sachverständiger geladener Psychologe hatte
zuvor die Therapiemöglichkeiten in der JVA Bützow kritisiert. Der Therapiebedarf
der Insassen habe in der JVA nicht abgedeckt werden können.
Wochenendausgabe, 06. Mai
2006 | Mecklenburg-Vorpommern
CDU
besteht auf Rücktritt von Martensen
Schwerin (dpa) Generalstaatsanwalt Uwe Martensen hat seine heftig
kritisierten Äußerungen im Justiz-Untersuchungsausschuss des Landtags
verteidigt, zugleich eine mögliche Verunglimpfung der Ausschussmitglieder aber
bedauert. Mit der Formulierung, der Ausschuss sei „eine ganz billige Nummer“
habe er keinen der Abgeordneten persönlich verunglimpfen wollen, schrieb er in
einem am Brief an den Ausschuss, den die CDU gestern veröffentlichte. Die
Oppositionspartei vermisste aber eine förmliche Entschuldigung und
Distanzierung von seinen Aussagen und bekräftigte deshalb ihre Forderung nach Martensens
Entlassung.
Martensen
schrieb, er habe dem Ausschuss nicht die Kompetenz abgesprochen, sich mit dem
Mordfall Carolin und den diesbezüglichen Entscheidungen der Staatsanwaltschaft
zu befassen. Er habe bei seiner Aussage „sogar ausdrücklich das Gegenteil
bestätigt“. Im Zusammenhang mit dem Mordfall Carolin seien die
Staatsanwaltschaften und vor allem die zuständige Mitarbeiterin aber
unberechtigten Angriffen bis hin zum Vorwurf der Beihilfe zum Mord ausgesetzt
gewesen. „Dem habe ich entschieden entgegentreten wollen und werde dies aus
meinem Verständnis von den Aufgaben meines Amtes heraus auch künftig tun
müssen.“
Für den
CDU-Obmann im Ausschuss, Ulrich Born, nicht zufrieden stellend. „Wenn er nicht
von sich aus den Hut nimmt, muss der Justizminister endlich handeln.“
Donnerstag, 04. Mai
2006 | Mecklenburg-Vorpommern
Generalstaatsanwalt
sorgt für Eklat im Carolin-Ausschuss
Die CDU erwägt eine Rücktrittsforderung an Justizminister Erwin Sellering (SPD). Grund: Sein Ministerium hat Generalstaatsanwalt
Uwe Martensen geheime Dokumente zugespielt.
Schwerin (OZ) Generalstaatsanwalt Uwe Martensen sorgte gestern im
parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Landtages „zur Klärung von
Sachverhalten im Bereich des Justizministeriums“ für einen Eklat. Er war als
Zeuge geladen, um Entscheidungen zu einer möglichen nachträglichen
Sicherungsverwahrung des Carolin-Mörders zu beleuchten. Martensen stellte die
Kompetenz des Untersuchungsausschusses in Frage. Er sei zornig, dass „die
politische Aktion Untersuchungsausschuss“ als eine nach dem Motto „Haltet den
Dieb“ eingestuft werden könnte. „Es ist eine ganz billige Nummer auf den
letzten Schützen“, sagte Martensen erbost. Die gesamt Staatsanwaltschaft in MV
sei in Misskredit gezogen worden. „Den Akzeptanzverlust kann ich täglich in der
Post feststellen“, erklärte der 64-Jährige. Um den Vertrauensverlust in der
Bevölkerung auszugleichen, würden Jahre benötigt. Martensen zitierte zudem aus
einem vertraulichen Protokoll des Rechtsausschusses des Landtags. Das Protokoll
habe er vom Justizministerium erhalten, sagte Martensen auf Nachfrage.
Ausschussvorsitzender
Klaus Mohr unterbrach die Sitzung. Die Worte des Generalstaatsanwaltes wertete
er als „Beschimpfung“ des Untersuchungsausschusses. „Wir bewegen uns hier im Rahmen
der Gesetze“, betonte Mohr. „Und auch die Staatsanwaltschaft und die
Generalstaatsanwaltschaft müssen sich gefallen lassen, dass gewählte
Volksvertreter ihnen auf die Finger schauen und ihre Arbeit prüfen.“ Mohr wies
nach dem Lesen des Wortprotokolles die Vorwürfe
entschieden zurück. Die Vernehmung des Generalstaatsanwaltes wurde
unterbrochen. Er wird zu einem späteren Zeitpunkt wieder vorgeladen. Zuvor
hatte der Zeuge Martensen geäußert, dass das neue Gesetz zur nachträglichen
Sicherungsverwahrung von Straftätern ohne jedwede Beteiligung der Praxis
erarbeitet worden sei. „Die gefundene Regelung war sehr kompliziert und
verschachtelt. Sie führte zu Unklarheiten“, sagte Martensen, dennoch sei das
Gesetz ständiges Thema von Dienstberatungen der Anklagebehörde gewesen.
Der
Generalstaatsanwalt sprach der Familie von Carolin sein tiefes Mitgefühl aus,
die 16-jährige Schülerin aus Graal-Müritz (Landkreis Bad Doberan) war am 15.
Juli 2005 von Maik S. vergewaltigt und ermordet worden. Der Täter war nach
siebenjähriger Haftstrafe wegen schwerer Vergewaltigung erst eine Woche vor dem
Mord entlassen worden.
Als Zeugen
geladen waren gestern auch zwei psychologische Sachverständige, die Maik S.
untersucht und begutachtet hatten. Beide kamen in Begleitung ihrer Rechtsanwälte
und verwiesen auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht aus beruflichen Gründen, die
ihnen eine Schweigepflicht abverlangen. Dr. Stefan Orlob
hatte 1998 ein erstes Gutachten zu Maik verfasst und nach dem Mord ein
weiteres. In letzterem stellte Orlob fest, dass Maik
S. nicht therapierbar sei. Birte Fellert hatte im
März 2005 ein Gutachten zu Maik S. erstellt, nachdem dieser eine vorzeitige
Haftentlassung beantragt hatte.
Diese wurde
abgelehnt, nachdem die Psychologin auf die nach wie vor große Gefährlichkeit
des Strafgefangenen hingewiesen hatte. Er musste seine Haftzeit bis zum letzten
Tag absitzen. Für eine nachträgliche Sicherungsverwahrung von Maik S. hätte
dieses Gutachten nicht gereicht, obgleich es nach Aussagen anderer
Sachverständiger deutliche Hinweise auf die gestörte Persönlichkeit des
späteren Carolin-Mörders lieferte.
Ulrich Born, CDU-Obmann des Ausschusses kündigte unterdessen an, dass
seine Partei prüfen wolle, ob Justizminister Erwin Sellering
(SPD) davon Kenntnis hatte, dass vertrauliche Protokolle an den
Generalstaatsanwalt weitergeleitet wurden. „Dann ist der Minister nicht mehr
tragbar“, sagte Born. Der Rechtsausschuss tage hinter verschlossenen Türen und
die Weitergabe von Papieren sei ein „Verstoß gegen den Geheimnisschutz des Landtages“.
DORIS KESSELRING
Donnerstag, 27. April
2006 | Mecklenburg-Vorpommern
Störungen
der Persönlichkeit waren bei Carolin-Mörder erkennbar
Schwerin (ddp) Der parlamentarische Untersuchungsausschuss zum Mordfall
Carolin hat gestern erstmals einen psychiatrischen Sachverständigen vernommen.
Der Leiter der Abteilung für forensische Psychiatrie und Psychotherapie der
Universität Regensburg, Michael Osterheider,
bewertete die beiden psychologischen Gutachten von 1998 und 2005 über den
späteren Mörder der Schülerin aus Graal-Müritz (Landkreis Bad Doberan). Nach
Angaben des Ausschuss-Vorsitzenden Klaus Mohr (SPD) habe Osterheider
dargestellt, dass bereits das ältere Gutachten auf eine verfestigte
Persönlichkeitsstörung hinweise.
CDU-Obmann Ulrich
Born sagte, dass nach Angaben des Experten anhand des so genannten Fellert-Gutachten aus dem Jahr 2005 neue Tatsachen
erkennbar gewesen seien. Das Pathologische in der Persönlichkeit des Täters
habe sich immer weiter entwickelt. Hinweise seien die verschiedenen Täuschungsversuche
während seiner Gefängniszeit.
Mittwoch, 26. April
2006 | Mecklenburg-Vorpommern
SPD
und PDS bescheinigen Justiz weiße Weste
Hätte Maik S., Mörder der 16-jährigen Carolin aus Graal-Müritz, aus der Haft
entlassen werden dürfen oder nicht? Sachverständige
vor dem Untersuchungsausschuss des Landtages sind weiter uneins.
Schwerin (OZ) Es wird immer deutlicher: SPD und Linkspartei wollen den
Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Mordfall Carolin kurz vor der
Landtagswahl nicht. Bei der gestrigen 6. Sitzung setzten die Vertreter der
Regierungsparteien alles daran, „ihrer“ Justiz schnell eine weiße Weste zu
bescheinigen. Obwohl die Aussagen der Sachverständigen andere Auslegungen
zulassen, nicht nur aus Sicht der CDU, die die Untersuchung des Mordes der
16-jährigen Schülerin aus Graal-Müritz gefordert hatte.
Über Stunden
vernahm der Ausschuss die Richterin am Bundesgerichtshof, Ruth Rissing-van Saan. Sie hatte
Carolins Mörder, den 29-jährigen Maik S. aus Gelbensande, im Februar im
Rechtsausschuss als „menschlichen Vulkan“ bezeichnet, den man einer Prüfung zur
Sicherheitsverwahrung hätte unterziehen sollen. Sie erkannte „das Recht und die
Pflicht der Staatsanwaltschaft“, im Rahmen einer Gefährlichkeitsprognose
Maßnahmen zu ergreifen. „Sobald es einen Verdacht oder Kenntnis über neue
Anhaltspunkte gibt“, sagte die Richterin.
Was neue
Anhaltspunkte sind, die die Prüfung auf Sicherheitsverwahrung erfordern,
darüber stritt der Ausschuss trefflich. Nach Ansicht des zweiten Sachverständigen,
des Greifswalder Rechtsprofessors Wolfgang Joecks,
gehören die 1500 Seiten der Gefangenenakte von Maik S. aus sieben Jahren Haft
nicht dazu. Auch nicht, wenn sie 14 schweren Verstöße gegen die
Gefängnisordnung und die Vergewaltigung eines Mitgefangenen dokumentieren.
1500 Seiten
Aktenstudium vor jeder Entlassung könne die Staatsanwaltschaft gar nicht
leisten, sagte Joecks. Dazu bräuchte man mehr
Personal. Bei der Bewertung des Gefangenen müsse eine Staatsanwältin auf das
Urteil der Gefängnispsychologen vertrauen können. „Wäre etwas Relevantes
gewesen, wäre das dem Psychologen sicher aufgefallen.“ Joecks
stellte auch einen „Konstruktionsfehler“ des Gesetzes zur Sicherheitsverwahrung
dar: Danach erfüllte Maik S. zwar alle Voraussetzungen im Gefängnis zu bleiben,
mit Ausnahme einer zweiten Verurteilung. Daher hätte er sowieso freigelassen
werden müssen.
Das ermunterte
die SPD während der Vernehmung von Joecks, eine
Erklärung zu veröffentlichen. Sinngemaß: Die Justiz
hat nicht versagt, die abweichende Meinung der BGH-Richterin Rissing-van Saan sei eine
„Einzelmeinung“. Die PDS schlug mit ihrer Erklärung in die gleiche Kerbe: Der
Justiz sei nichts vorzuwerfen.
Der Vater der
ermordeten Carolin betrachtet das Geschehen mit Skepsis. „Es zeigt sich, dass
alle Missstände, die zur ungeprüften Entlassung des gefährlichen Täters
führten, nach wie vor bestehen“, sagte Jörg Scholz. „Es ist also nach wie vor
möglich, dass sich so etwas wiederholt.“ Scholz hatte in bisherigen
Ausschusssitzungen verwundert reagiert, dass es nichts Verwerfliches ist, wenn
Akten über die Vergewaltigung eines 12-Jährigen, die Maik S. anzulasten ist,
verschwinden, oder eine Staatsanwältin die Aussage verweigert.
KLAUS WALTER
Donnerstag,
20. April 2006 | Mecklenburg-Vorpommern
Carolin-Ausschuss: Zeugen beeinflusst
Empörung im Ausschuss zum Mordfall Carolin. Zeugen
sollen vom Justizministerium beeinflusst und
Akten vernichtet worden sein.
Schwerin (OZ/dpa) Das
Verfahren im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Mordfall Carolin und
zu
Vorgängen in der Justizverwaltung wird immer bizarrer. Nachdem bei der
vergangenen Ausschusssitzung
eine
Staatsanwältin „die Aussage verweigerte“, wurden gestern zwei weitere,
unfassbare Details bekannt.
Zum
einen wurde die Bewährungshelferin des Mörders Maik S. gezielt in Rollenspielen
auf ihre Aussage vor
dem
Untersuchungsausschuss vorbereitet. Zum anderen sind Akten über die
Vergewaltigung eines 12-jährigen
Jungen,
die vermutlich Maik S. weiter belastet hätten, verschwunden.
„Wir
sehen uns bestätigt, dass der Ausschuss notwendig war“, sagt dessen Mitglied
Ulrich Born (CDU). Was
das
Gremium von der Bewährungshelferin des Maik S. vernommen habe, sei für viele
„rational nicht mehr
fassbar“.
So sei die Bewährungshelferin am Gründonnerstag vom Abteilungsleiter im
Justizministerium, Jörg
Jesse,
angerufen worden, um mit ihr vor der Vernehmung über das Thema zu sprechen.
Born
und weitere Ausschussmitglieder werten das als unzulässigen Versuch der
Zeugenbeeinflussung. „Das ist
ein
unglaublicher Vorgang“, sagte Born, „für den Justizminister Erwin Sellering (SPD) die Verantwortung
trägt.“
Schon
vorher, so habe die Bewährungshelferin eingeräumt, seien „Rollenspiele zur
Vorbereitung der
Vernehmung“
mit der Zeugin durchgeführt worden. „Für mich ist das Beeinflussung, die dazu
dient, die
Wahrheitsfindung
zu verhindern, statt sie zu ermöglichen“, sagt Born.
Nach
Angaben des Ausschussvorsitzenden Klaus Mohr (SPD) gab die Frau auch an,
„inhaltlich nicht instruiert“ worden zu sein.
Mohr
hält die Kontakte für „legitim“. Die Bewährungshelferin habe versucht, sich mit
Hilfe ihrer Kollegen
länger
zurückliegende Vorgänge zu vergegenwärtigen. Jesse habe ihr in dem Telefonat
gute Arbeit bescheinigt.
Justizminister
Erwin Sellering (SPD) kündigte eine Überprüfung an.
Er sagte: „Selbstverständlich darf der
Dienstherr
einem Bediensteten bei der Vorbereitung auf eine besondere Belastungssituation
helfen, indem er
dem
Zeugen allgemein Mut macht oder den Verfahrensgang und die Rollen der
Beteiligten erläutert.“
Schwerer
wiegt Ulrich Born ein weiterer Aspekt: Ebenfalls gestern stellte sich heraus,
dass Ermittlungsakten
von
1995 über die Vergewaltigung eines 12-jährigen Jungen verschwunden sind. Die
Tat wurde während der
Gerichtsverhandlung
im Mordfall Carolin thematisiert, weil sie möglicherweise Carolins Mörder, Maik
S. aus
Gelbensande,
zugeschrieben werden könne.
„Leider
wissen wir nicht zweifelsfrei, ob Maik S. auch dieses Verbrechen begangen hat“,
bedauert Born.
„Wenn
ja, wäre klar gewesen, dass der 29-Jährige in Sicherheitsverwahrung gehört
hätte – und die
Gymnasiastin
aus Graal-Müritz noch leben könnte.“
In
der Sitzung ging es vor allem um die Führungsaufsicht über den Mann nach seiner
Haftentlassung. Unter
anderem
war angeordnet worden, dass er sich bei seiner Bewährungshelferin melden und
seine Therapie zu
Ende
führen muss.
KLAUS WALTER