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Eklat
im Mordfall Carolin
| 30.03.06, 16:37 Uhr |
Im Schweriner Landtag hat eine Staatsanwältin die
Zeugenbefragung im Mordfall der 16-jährigen Carolin platzen lassen.
„Schlamperei
und Ignoranz“ hatten Jörg und Martina Scholz, 43 und 42, der Justiz in
Mecklenburg-Vorpommern vorgeworfen, nachdem feststand, dass ein frisch
entlassener Gewalttäter ihre Tochter Carolin im Juli 2005 vergewaltigt und
ermordet hatte. Jetzt, nach der ersten Zeugenbefragung im
Untersuchungsausschuss des Landtags, der feststellen soll, ob die Justiz Fehler
gemacht hat, muss sich die Staatsanwaltschaft Stralsund zusätzlich den Vorwurf
der Borniertheit gefallen lassen.
Der
Untersuchungsausschuss soll klären, ob die Staatsanwaltschaft hinreichend
geprüft hat, ob für den damals 29-jährigen Maik S. die Möglichkeit der
nachträglichen Sicherungsverwahrung bestand. Er hatte seine siebenjährige
Haftstrafe wegen Entführung, Misshandlung und Vergewaltigung einer 20-Jährigen
bis zum letzten Tag abgesessen. Sieben Tage später zerrte er Carolin bei
Graal-Müritz mehrere Hundert Meter weit in den Gelbensander Forst,
misshandelte, vergewaltigte und erschlug sie.
Staatsanwaltschaft verweigert Aussage
Zum
Affront kam es in dem parlamentarischen Kontrollgremium im Schweriner Landtag
am Dienstagabend. Die als Zeugin geladene Stralsunder Staatsanwältin Ute Kampen
verlas eine schriftliche fixierte Erklärung, in der sie im Stakkato ihre
damalige Überprüfung der Frage einer nachträglichen Sicherungsverwahrung für
Maik S. auflistete und dann jede weitere Aussage verweigerte. Dabei berief sich
die Juristin auf ein Auskunftsverweigerungsrecht, weil gegen sie Strafanzeigen
angekündigt worden seien.
Tatsächlich
hatte Jörg Scholz im November Dienstaufsichtsbeschwerden und Strafanträge
erwogen. Vor der Sitzung des Untersuchungsausschuss erklärte Scholz allerdings,
es sei sinnvoller, ein mögliches Fehlverhalten der Justiz von einem
parlamentarischen Gremium prüfen zu lassen als von der Justiz selbst. Dass der
Ausschussvorsitzende Klaus Mohr (SPD) der Staatsanwältin nach einer
Sitzungsunterbrechung erläuterte, dass die Voraussetzung für ein
Auskunftsverweigerungsrecht nicht vorlägen, half
wenig. Kampen rattere im belehrenden Ton Beschlüsse und Kommentare zum
Auskunftsverweigerungsrecht herunter und blieb dabei: keine weitere Aussagen.
Uniformierte statt Juristen
Zuvor
hatte der Untersuchungsausschuss den Leiter der Justizvollzugsanstalt Waldeck,
Ralf-Gunter Nagler, und den Diplompsychologen und Psychotherapeuten der
Haftanstalt, Michael Schwark, vernommen. Fazit: die Vorprüfung der juristisch
komplizierten Frage, ob die Voraussetzung für die Beantragung einer
nachträglichen Sicherungsverwahrung vorliegen, übernahmen – zumindest bis zum
Mordfall Carolin – im Mecklenburg-Vorpommern überwiegend Nichtjuristen in den
Haftanstalten.
Die
dafür per Erlass des Justizministeriums von August 2004 vorgeschriebene
formalisierte Checkliste sei, so Schwark, „für Nichtjuristen wenig praktikabel“
war. Mit Kopfschütteln registrierten die Ausschussmitglieder, dass nach Angaben
von Schwark in der JVA Waldeck anfangs sogar auch „uniformierte Kollegen mit
den Checklisten befasst“ gewesen seien. JVA-Leiter Nagler erklärte, man habe
„im Hinblick auf dieses Ereignis“ (er meinte den Mord an Carolin Scholz)
gemerkt, dass die Prüfung komplizierter sei und fortan darauf geachtet werde,
„dass Mitarbeiter diese Aufgabe wahrnehmen, die dem sicher gewachsen sind“.
Entscheidungen trafen „Dilettanten“
Im
Fall Maik S. jedenfalls prüfte Therapeut Michael Schwark im Januar 2005 nach
Aktenlage, ob die Voraussetzungen für ein nachträgliches Wegsperren gegeben
waren. Das juristische Wissen dazu habe er sich „autodidaktisch
angeeignet", vertraute er dem Ausschuss an. Und er bekannte mit Bedauern
auch: „Ich habe ihn als nicht gefährlich angesehen.“ Am 28. Januar vermerkte
Schwark deshalb auf der Checkliste handschriftlich, die „formellen
Voraussetzungen liegen nicht vor“. Ein Fehler, wie er im Ausschuss bekannte –
aber nur in der Formulierung. Denn selbstverständlich lagen die formellen
Voraussetzungen (schwere der Straftat, Haftdauer, Vorstrafen) vor. Der
Therapeut hatte die inhaltlichen Gründe gemeint, also die Frage, ob neue,
schwere Straftaten vorlägen.
Die
Eltern von Carolin verfolgten den Untersuchungsausschuss mit Genugtuung und
Verbitterung. „Der Tag hier hat gezeigt, wie sehr sich die Handelnden selbst
überschätzt haben, wie miserabel die Prüfung der nachträglichen
Sicherungsverwahrung organisiert war und wie wenig die Beteiligten miteinander
kommuniziert haben", so Jörg Scholz zu FOCUS Online. Martina Scholz sagte
geschockt nur einen Satz: „Carolin musste sterben, weil solche Dilettanten die
Entscheidungen trafen.“
Von Focus Redakteur Robert Vernier
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Donnerstag,
30. März 2006 | Mecklenburg-Vorpommern
Staatsanwältin hüllt sich in Schweigen
Gestern begann der Untersuchungsausschuss zum Mord an
Carolin seine Arbeit. Aussagen lassen Fehler in der Beurteilung des Täters
erkennen.
Schwerin (OZ) Es geht um Versäumnisse
der Justiz. Hätte der Mord an der 16-jährigen Carolin aus Graal-Müritz im
Sommer vergangenen Jahres verhindert werden können? Hätte ihr Mörder Maik S.,
nachdem er sieben Jahre wegen einer schweren Sexualstraftat in Haft war, aus
dem Gefängnis entlassen werden dürfen?
Hätte
die Justiz nicht nachträgliche Sicherungsverwahrung anordnen müssen für einen
Täter, der nur wenige Tage nach seiner Entlassung wieder zugeschlagen hat?
Diesen
Fragen will der Untersuchungsausschuss des Landtages auf den Grund gehen.
Gestern wurden erste Zeugen vernommen: Der Leiter der Justizvollzugsanstalt
Waldeck, Ralf-Gunter Nagler; der zuständige Gefängnispsychologe und
Staatsanwälte.
Carolins
Eltern, Martina und Jörg Scholz, sitzen im Saal. Sie setzen große Hoffnungen in
das Verfahren. „Die Justiz mit der Justiz zu verklagen“, sagt Jörg Scholz, „ist
aussichtslos.“ Daher würden sie auf die parlamentarischen Kräfte bauen. In der
großen Hoffnung: „Dass unsere Kinder am Ende besser geschützt sind.“ Schon die
Aussagen der ersten Zeugen lassen grobe Fehler bei der Beurteilung des Täters
erkennen. Psychologe Michael Schwark sollte dessen Gefährlichkeit prüfen,
anhand einer vom Justizministerium vorgegebenen Checkliste. Hätte er
Auffälligkeiten festgestellt – hat er aber nicht – hätte die Staatsanwaltschaft
Stralsund eine Sicherungsverwahrung beantragen müssen – hat sie aber nicht.
Der
Psychologe kennt Maik S. nur vom Haftantritt 1998 in Bützow. Seine Entwicklung
im Gefängnis habe er nicht verfolgt. Die Prüfung zur Sicherungsverwahrung nimmt
der Psychologe im Januar 2005 an Hand der Personalakte vor. Streng nach
Checkliste, die seiner Ansicht nach „für Nicht-Juristen wenig praktikabel war“.
Am Ende bescheinigte Schwark, dass „formelle Voraussetzungen von nachträglichen
Sicherungsverwahrungen nicht vorliegen“. „Eine falsche Begrifflichkeit“ räumt
er ein, die er gewählt habe.
Der
Chef der JVA zeichnete den Bericht ohne Kontrolle ab, obwohl Abweichungen in
Checkliste und Beurteilung erkennbar gewesen wären. Im Laufe der Vernehmungen
wurde offensichtlich, dass die Gefangenenakte des Maik S. nur unvollständig
geführt war. Ein externes Gutachten vom März vergangenen Jahres, angefertigt
aufgrund eines Haftaussetzungsantrages von Maik S., wurde nicht abgeheftet, ja
war in der JVA nicht einmal bekannt. Begründung: Die Auftraggeber seien eben
andere gewesen. Da können die Ausschussmitglieder nur den Kopf schütteln.
Carolins
Eltern sind entsetzt. Jörg Scholz meint, einen ganzen „Flickenteppich von
prozessualen Fehlern“ bei der Prüfung der Gefährlichkeit des Täters zu
erkennen. Es gebe massive „Kommunikationsprobleme“ in der JVA und mit anderen
Behörden, sagte er. Seiner Ansicht nach würden sich Mitarbeiter der JVA völlig überschätzen.
Die rechtliche Prüfung einer solch gravierenden Entscheidung dürfe keinesfalls
Nicht-Juristen überlassen werden.
Die
zuständige Staatsanwältin hätte diese Entscheidung fällen können. Für sie gab
es indes keine Anhaltspunkte. „Die rechtlichen Vorgaben ließen eine
nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht zu“, erklärt Ute Kampen. Mit Verweis
auf mögliche strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen sie pocht die
Staatsanwältin auf ihr Aussageverweigerungsrecht. Die Mitglieder des
Ausschusses wurden ob dieser Sturheit zum Teil ungehalten und luden sie und
alle anderen Zeugen aus der Staatsanwaltschaft bis hin zum Generalstaatsanwalt
Uwe Martensen am 19. April erneut vor.
30.03.2006
DORIS KESSELRING