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Montag, 21. November 2005  |  Mecklenburg-Vorpommern

Nebelkerze vom Justizminister


Scharfe Kritik richtet der Anwalt der Eltern der ermordeten Carolin an Erwin Sellering. Die Haltung des Ministers hält er für bedenklich.

Rostock (OZ) Einen Tag nach dem Urteil im Mordfall Carolin hat Justizminister Erwin Sellering (SPD) die Justizbehörden des Landes gegen Vorwürfe in Schutz genommen, sie hätten den Mörder der 16-Jährigen leichtfertig aus der Haft entlassen.

Eine juristisch bedenkliche und moralisch fragwürdige Haltung“, meint Rechtsanwalt Albrecht Lüthke, der die Eltern im Prozess als Nebenkläger vertrat.

OZ: Wie werden Carolins Eltern auf die Äußerungen aus dem Justizministerium und der Generalstaatsanwaltschaft reagieren?

Lüthke: Ich prüfe die Möglichkeit einer Amtshaftungsklage gegen den Justizminister, eine Strafanzeige gegen die Staatsanwältin wegen fahrlässiger Tötung und eine Zivilklage gegen Maik S.

OZ: Was kritisieren Sie?

Lüthke: Zum einen ist es eine Instinktlosigkeit, dass vom Justizminister einen Tag nach dem Urteil öffentlich versucht wird, sich juristisch reinzuwaschen. Die Eltern des Mädchens haben nach den äußerst belastenden Verhandlungstagen verdient, dass man sie zur Ruhe kommen lässt. Zum anderen hat der Justizminister stets vollmundig Aufklärung versprochen. Seine jetzige Haltung gegenüber der von uns kritisierten Staatsanwältin macht ihn unglaubwürdig.

OZ: Was werfen Sie der Staatsanwaltschaft vor?

Lüthke: Unserer Ansicht nach hätte der Täter, für den Gutachter während seiner vorigen Haftzeit negative Prognosen erstellten, nicht entlassen werden dürfen. Die Staatsanwaltschaft hätte ein halbes Jahr vor der Entlassung von Maik S. die Möglichkeit der nachträglichen Sicherungsverwahrung prüfen müssen. Allerdings gibt es von ihr nur einen handschriftlichen Vermerk vom 22. Juli 2005, also eine Woche nach dem Mord an Carolin. Wir haben den Eindruck, dass sich die Staatsanwältin vor der Entlassung des Täters aus der Haft keine oder aber unzureichende Gedanken gemacht hat. Sie kann jedenfalls nichts Gegenteiliges belegen.

OZ: Justizminister Sellering und der Generalstaatsanwalt Uwe Martensen sagen, dass es gar nicht die gesetzlichen Voraussetzungen für eine nachträgliche Sicherungsverwahrung gab.

Lüthke: Genau das bestreiten wir. Der Paragraf 66 b Absatz 2 des Strafgesetzbuches sagt unter anderem, dass eine Sicherungsverwahrung nachträglich angeordnet werden kann, wenn die Tatsache der besonderen Gefährlichkeit des Täters vorliegt. Genau diese Gemeingefährlichkeit des Maik S. hat ein Gutachten der Psychologin Birte Fellert vom 30. März 2005 ausdrücklich festgestellt. Nicht umsonst hat die Gutachterin vor einer vorzeitigen Haftentlassung gewarnt.

OZ: Sie kritisieren, dass Maik S. in der Haft nicht ausreichend therapiert wurde.

Lüthke: Natürlich. Der Gutachter hatte im Prozess 1998 dringend die Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt empfohlen. Obwohl die sozialtherapeutische Abteilung in der Justizvollzugsanstalt Waldeck Anfang 2003 eingerichtet worden war, durfte Maik S. erst Mitte 2004 als Externer an der Therapie teilnehmen, ehe er im Januar 2005 reguläre Betreuung erhielt. Die auf zwei Jahre angelegte Sozialtherapie geschah viel zu spät. Der Justizminister muss sich die Frage gefallen lassen, warum mindestens drei Anträge auf Psychotherapie, die Maik S. gestellt hat, abgelehnt wurden. Und warum ihm auf seine Eingabe beim Justizministerium 2002 erklärt wurde, es bestehe nicht die Notwendigkeit einer Psychotherapie. Wie ernst meint es die Justiz mit dem Schutz der Allgemeinheit vor Straftätern wie Maik S.?

OZ: Sellering hat eine Bundesratsinitiative gestartet, die erreichen soll, dass für Ersttäter schon bei der Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet werden kann. Was halten Sie davon?

Lüthke: Das ist juristisch vollkommen überflüssig. Es gibt bereits die Möglichkeit der nachträglichen Sicherungsverwahrung für Ersttäter. Man muss sie nur nutzen. Wenn also die Justizbehörden ihre Arbeit ordentlich machen und dabei feststellen, dass sich bei einem verurteilten Ersttäter während der Haft Anhaltspunkte für eine notwendige nachträgliche Sicherungsverwahrung ergeben, dann kann die Allgemeinheit jetzt schon sicher und dauerhaft geschützt werden. Dann blieben Eltern so schreckliche Erfahrungen, wie im Fall Carolin erspart.

Interview: MANUELA PFOHL



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Mittwoch, 16. November 2005  |  Mecklenburg-Vorpommern

Höchststrafe für Carolins Mörder


Maik S. wurde gestern zu lebenslanger Haft und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Die Eltern des Opfers planen weitere Schritte.

Rostock (OZ) Es ist das Urteil, dass wohl alle Prozessbeteiligten erwartet hatten: Maik S., der 29-Jährige aus Gelbensande bei Rostock, ist schuldig der Geiselnahme, der Vergewaltigung und des Mordes an der 16-jährigen Carolin. Weinend umarmten sich gestern nach dem Urteil der Schwurgerichtskammer des Rostocker Landgerichts die Eltern, der Bruder und der Freund der ermordeten Schülerin. „Die Höchststrafe ist richtig. Genugtuung empfinden wir nicht“, sagte Vater Jörg Scholz: „Carolin könnte noch leben.“

Das Gericht stellte die besondere Schwere der Tat fest und verhängte im Anschluss an die Haftzeit Sicherungsverwahrung. „Man muss sich klar machen“, sagte der Vorsitzende Richter Guido Lex, „dass beim Angeklagten eine Therapie zwecklos ist.“ Maik S. sei voll schuldfähig. Lex: „Die Allgemeinheit muss vor solch einem Schwerverbrecher dauerhaft geschützt werden.“

Das pauschale Geständnis des Angeklagten am letzten Prozesstag – „Es tut mir furchtbar Leid“ – sei für die Urteilsfindung nicht nötig gewesen, zu erdrückend die Last der Beweise: DNA-Spuren weisen S. eindeutig als Täter aus.

Der Richter rekonstruierte das Geschehene. Demnach war der gerade aus der Haft Entlassene am 15. Juli im Wald auf die Schülerin getroffen, hatte sie 585 Meter weit ins Dickicht verschleppt und unter Androhung von Gewalt missbraucht. Anschließend musste sich das Mädchen wieder ankleiden. „Schon da war sich der Angeklagte bewusst, dass er sein Opfer töten würde“, führte der Richter aus.

Ein Telefonat ihres Freundes muss Carolin noch heimlich am Handy angenommen haben. Als das der Täter bemerkte, warf er das Handy in den Wald. Ein Fluchtversuch von Carolin scheiterte. Nach 21 Metern holte ihr Mörder sie ein. Vermutlich mit einem Stein wurde die 16-Jährige erschlagen.

Was wir für den Täter empfinden, ist eine Steigerungsform von Hass. Menschliche Züge trägt der nicht“, sagte Carolins Mutter, Martina Scholz. Zwei Prozesse werden noch folgen, kündigten die Hinterbliebenen an: Ein Zivilprozess gegen den Täter. Und ein Verfahren gegen die Stralsunder Staatsanwältin, die bei der letzten Haftentlassung nicht nachträglich Sicherungsverwahrung für Maik S. beantragt hatte.

NICK VOGLER



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Wochenendausgabe, 12. November 2005  |  Blickpunkt

CDU: Untersuchungsausschuss soll Akten prüfen


Die Eltern von Carolin werfen der Justiz schlampiges Arbeiten vor. Sie bekommen Unterstützung von der Landes-CDU, die Aufklärung verlangt.

Schwerin (OZ) „Erklärungen von Minister Sellering, er wolle Gesetze ändern, sind jetzt nicht mehr ausreichend“, konstatierte Ulrich Born, rechtspolitischer Sprecher der CDU-Landtagsfraktion nach dem gestrigen Prozesstag im Mordfall Carolin. Justizminister Erwin Sellering (SPD) hatte nach Bekanntwerden des Mordes eine Bundesratsinitiative zur Verschärfung des Strafrechts angekündigt.

Das ist in dem Fall überhaupt nicht die Frage“, sagt Born. Erkenntnisse aus dem Prozess würden die Position stärken, dass „der Täter nie frei gekommen wäre, hätte man konsequent gehandelt.“

Die Eltern der ermordeten Carolin hatten bereits vor dem Prozess Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Stralsunder Staatsanwaltschaft eingelegt. Die CDU zieht jetzt laut Born in Erwägung, einen Untersuchungsausschuss im Landtag einzuberufen. „Man muss sich schon fragen, ob der Minister seinen Laden noch richtig im Griff hat“, sagt Born. Wichtige Details aus Gutachten und Haftverlauf bei Maik S. habe der Minister dem Rechtsausschuss des Landtags nicht vollständig dargelegt. „Einem Untersuchungsausschuss gegenüber müssen die Akten offengelegt werden, es können Zeugen vernommen werden“, sagt Born. Der Justizminister verweist auf das laufende Verfahren und äußert sich nicht zu den Vorwürfen.

Die Vorwürfe der Eltern richten sich auch an die Justizvollzugsanstalt. Während seiner langjährigen Haftstrafe, die Maik S. unter anderem wegen Geiselnahme und Vergewaltigung absaß, sei er über weite Strecken „schlicht verwahrt“ worden – ohne wirksame sozialpädagogische Einwirkung. Der Verurteilte habe Therapien unter fadenscheinigen Gründen abgelehnt. „In dieser Beziehung ist von Seiten der Anstalt zu wenig Druck ausgeübt worden“, heißt es in der Beschwerde. Zudem sei er erst im Januar 2005 in die sozialtherapeutische Abteilung Waldeck verlegt worden, obwohl es diese Abteilung bereits seit 2003 dort gegeben habe und die Verlegung in einem psychiatrischen Gutachten empfohlen war. „Viel zu spät“, sagen die Eltern. Die Therapie war bei Entlassung noch nicht beendet.

Erst nach Bekanntwerden des neuen Verbrechens fertigt die Stralsunder Staatsanwältin Ute Kampen handschriftlich eine Aktennotiz an – offensichtlich unter dem Eindruck des Mordes, werfen die Hinterbliebenen ihr vor. Bei Maik S. seien keine neuen Tatsachen aufgetreten, notiert die Staatsanwältin, eine nachträgliche Sicherungsverwahrung sei nicht gerechtfertigt.

Es gab neue Tatsachen, man hätte nur genauer hinsehen müssen“, sagt Jörg Scholz und verweist auf Vorkommnisse in der Haft.

NICK VOGLER


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Wochenendausgabe, 12. November 2005  |  Blickpunkt

Das Geständnis des Maik S.


Mit einer unerwarteten Entschuldigung endete gestern der Prozesstag gegen den Mörder von Carolin. Die Anklage fordert, ihn für immer wegzuschließen.

Rostock (OZ) „Ich möchte den Angehörigen von Carolin sagen, dass mir das Geschehene furchtbar Leid tut. Und ich bitte das Gericht um ein angemessenes Urteil. Wie gesagt, es tut mir Leid.“

Als Maik S. gestern nach Wochen des Schweigens mit diesen dürren Worten seine Schuld eingestand, hatte der Vorsitzende Richter der Schwurgerichtskammer am Rostocker Landgericht, Guido Lex, die Beweisaufnahme im Fall Carolin schon geschlossen. Staatsanwältin Tanja Bierfreund und die Vertreterin der Nebenklage, Verina Speckin, hatten in ihren Plädoyers schon lebenslange Haftstrafe und anschließende Sicherungsverfahrung gefordert.

Auch der Verteidiger des der Geiselnahme, der Vergewaltigung und des Mordes an der 16-jährigen Graal-Müritzerin angeklagten Maik S. konnte im Indizienprozess keine entscheidenden Lücken und entlastenden Fakten aufzeigen.

Danach blieb S. seiner bisherigen Linie wieder treu. Nähere Ausführungen zur Tat verweigerte er. Im Gesicht etwas blasser als sonst, aber mit unbewegter Miene und immer gleicher, leicht nach vorn über den Tisch gebeugter Haltung, hatte der 29-Jährige zuvor von der Staatsanwältin die erneute Beschreibung des entsetzlichen Verbrechens gehört. Und hatte mit stoischem Blick quittiert, wie vom Gericht das Urteil gefordert wurde, das für ihn Wegschließen für immer bedeutet.

Einmal war Maik S. während des Prozesses aktiv geworden. Er habe früher wegen gemeinschaftlichen schweren Raubes vor Gericht gestanden, wollte Rechtsanwalt Albrecht Lüdtke in den Akten gelesen haben. Dagegen wehrt sich S., er schüttelt entrüstet den Kopf. Damals sei es nur um Diebstahl gegangen. Zu einer vergleichbaren Reaktion zwingt ihn jedoch keine der Anschuldigungen im Fall Carolin.

Im psychiatrischen Gutachten beschreibt ihn Dr. Stefan Orlob vor Gericht als Psychopathen. „Die letzte Wahrheit über Maik S. wird uns vermutlich verborgen bleiben“, führte der Psychiater aus. Doch aus dem, was der Gelbensander in Worten und Taten über sich preisgibt, zeichnet der Fachmann ein düsteres Bild: S. neige zur Gewalt, zur Missachtung gesellschaftlicher Normen, sei unkritisch gegenüber sich selbst, neige dazu, andere zu beschuldigen. Er sei egozentrisch, rücksichtslos, stelle eigene Wünsche und Vorstellungen in den Vordergrund. Und sei zudem in der Lage, sich devot und unterwürfig zu verhalten, Menschen zu manipulieren. Er habe Freude daran, Macht auszuüben.

Nach Orlobs Einschätzung hat Maik S. „den Hang zur Begehung erheblicher Straftaten“. Und: Er sei trotzdem voll schuldfähig. Schließlich hätte auch S. andere Alternativen gehabt – zum Beispiel den Wald und die mögliche Begegnung mit Mädchen zu meiden. Beziehungsweise erst recht nicht solche Situationen zu provozieren.

Im Nachhinein müsse man feststellen, sagt Orlob, dass dieser Täter wohl auch durch eine Therapie kaum geheilt werden könne. „Dass man eine Therapie dennoch versucht hat, war richtig.“ Auch frühere Gutachten hätten Maik S. sämtlich negative Prognosen gestellt. Das letzte Gutachten dieser Art stammt aus dem Monat März. S. wurde daraufhin eine vorzeitige Entlassung aus der Haft, die er wegen einer früheren Tat absaß, verweigert.

Entgültig entlassen hätte man ihn nie dürfen, findet die Familie Scholz. Vater Jörg hat die Kraft, vor Gericht, vor den Zuschauern und vor dem Täter über Carolin, das Verbrechen und über die Trauer zu reden. „Sie war ein so liebevolles Wesen“, sagt er mit brüchiger Stimme. Carolin wusste, wann man trösten muss. Sie war fröhlich, sie war kritisch und pflegte ein riesiges Netz an Bekanntschaften. „Wissen Sie, was ,h.e.g.d.l.' heißt“, fragt der Vater. Es stand auf einem Zettelchen, den die Tochter den Eltern hingelegt hat: „Hab' Euch ganz doll lieb“.

Sie fehlt nicht nur den Eltern. Auch Sohn Martin, gerade fertig mit dem Abitur, sitzt blass als Nebenkläger im Gerichtssaal. „Ihm ist durch die Tat nicht nur die Schwester geraubt worden“, sagt Rechtsanwältin Speckin. Sondern auch die Eltern.

Carolin fehlt genauso Maxe, ihrem Freund, der am Tattag auf sie gewartet hat. Für den sie die erste große Liebe war. Der jetzt versucht, die Ohnmacht allein zu bewältigen. „Ich hebe alles auf, was irgendwie mit ihr zu tun hat“, sagt er. Alles.

Auch im Haus der Scholz' ist Carolins Zimmer unverändert. Die Eltern versuchen, der Trauer mit Ritualen ein Gesicht zu geben. Sie gehen täglich zum Friedhof. Halten den Kontakt zu Carolins Freundinnen und Freunden. „Sie haben so viel Wissen über unsere Tochter.“

Am Dienstag wird das Urteil erwartet. „Aber es wäre gut zu wissen, was wirklich geschehen ist“, sagte der Vater gestern. Weil Phantasien darüber, was geschehen sein könnte, schlimmer sind als die ganze Wahrheit. „Ich erwarte“, wandte er sich bei der Verhandlung an Maik S., „dass Sie den Mut haben, zu sagen, was da passiert ist.“

Maik S. will das offenbar nicht verstehen. „Es tut mir Leid“, sagt er lediglich.

Ein feiges Geständnis.

NICK VOGLER




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Mittwoch, 09. November 2005  |  Blickpunkt

Erdrückende Beweise – doch der Angeklagte schweigt


Seit gestern muss sich der mutmaßliche Mörder von Carolin vor Gericht verantworten. Die Eltern treten als Nebenkläger auf.

Rostock (OZ) Maik S. sitzt da und schweigt zu den Vorwürfen. Er bestreitet nicht. Er gesteht nicht. Er sitzt am Tisch des Angeklagten vor der Schwurgerichtskammer des Rostocker Landgerichts neben seinem Anwalt Martin Dimieff und schweigt. Er trägt ein blaues Sweatshirt unter schwarzer Jacke. In den Ohren goldene Ringe. Den Oberkörper hat er auf den Tisch gelehnt, die Arme hält er über Kreuz. Sein Gesicht ist ausdruckslos. Nur manchmal guckt er kurz zu seinem Anwalt.

Die Eltern und der Bruder der ermordeten Schülerin Carolin sitzen dem Angeklagten im Prozess als Nebenkläger gegenüber. Die Eltern sind voller Trauer, trotzdem gefasst. Manchmal halten sie sich kurz und still an den Händen. „Für uns ist es das Mindeste, bei der Verhandlung dabei zu sein. Unsere Carolin hat viel mehr leiden müssen. Todesmarsch, Vergewaltigung, Flucht, grausamer Mord“, hat Vater Jörg Scholz vor dem Prozess gesagt. Oft blickt er geradeaus ins Gesicht des mutmaßlichen Mörders seiner Tochter. Dessen Augen huschen dann weg. Nach unten, zur Seite.

Seit gestern wird am Landgericht Rostock die Schuldfrage im Mordfall Carolin geklärt. Der große Saal ist voller Zuschauer. Angehörige, Freunde, Klassenkameraden von Carolin. Manche haben Tränen in den Augen. Deutschlandweit hatte der Fall im Juli für Aufsehen gesorgt. Maik S. wurde kurz nach der Tat verhaftet. Wenige Tage zuvor war er aus siebenjähriger Haft, die er wegen Entführung und Vergewaltigung absaß, entlassen worden. Wiederholungstäter? Es scheint so, die Beweislast ist erdrückend. DNA-Spuren und Zigarettenkippe am Tatort und der Leiche werden ihm zugeordnet.

Das Mädchen wurde im Wald vom Fahrrad gezogen, vergewaltigt, danach musste sie sich wieder ankleiden und wurde später wohl mit Steinschlägen gegen Kopf und Hals getötet, klagt Staatsanwältin Tanja Biermann an. Maik S. stiert vor sich hin. Nein, zur Tat lasse er sich nicht ein, antwortet sein Anwalt dem Vorsitzenden Richter Guido Lex.

Doch zu seinem Lebenslauf spricht S.. Er ist das jüngste von sieben Kindern seiner Mutter, einer Tischlerin. Vier Geschwister stammen aus erster Ehe. Sein Vater sei der einzige, der jetzt noch Kontakt zu ihm halte. Der letzte Besuch liege aber schon etwa anderthalb Monate zurück.

Manchmal macht Maik S. Pausen beim Sprechen. „Tja“, sagt er dann und lässt hörbar die Luft aus seinem massigen Brustkorb strömen. Eine Erfolgsgeschichte ist sein Leben nicht. Zeitweise war er im Kinderheim, die Schule hat er in der siebten Klasse abgebrochen. Auch Lehren hat er begonnen und ist gescheitert. Keine Lust gehabt, sagt S.. Neun Jahre ist seine Tochter alt, die jetzt bei den Großeltern wohnt. Die Beziehung zur Mutter zerbrach, als er 1996 und 97 eine Jugendstrafe verbüßte.

Danach wohnte er bei seinen Eltern in Gelbensande. Nicht lange. Dann beging er die Tat, die ihn sieben Jahre ins Gefängnis brachte. „Ich wollte dort eine Therapie für Sexualstraftäter, aber die Anträge wurden abgelehnt“, sagt S. und wählt die Worte jetzt sehr sorgfältig. Woran er gemerkt habe, dass er Hilfe braucht, fragt Richter Lex.

Wieder macht Maik S. eine Pause. Schnauft, sagt „tja“, guckt seinen Anwalt an und verfällt ins Vor-sich-hin-Stieren. Denkt er an heimliche Phantasien und Träume? „Ich wollte lernen, mit gewissen Situationen umzugehen“, sagt er schließlich.

Bei einer späteren Gruppen-Therapie habe er sich nicht rege beteiligt, heißt es in einem Gutachten, aus dem der Richter zitiert. Maik S. bestreitet das. Aber über Gedanken und Gefühle habe er dort nicht sprechen wollen. Keine Lust.

In zwei Verfahren in der Haftzeit wegen Vergewaltigung und Raub im Gefängnis wurde er freigesprochen, sagt S. auf Nachfrage des Anwalts der Nebenklage, Albrecht Lüthke. Für Eltern und Bruder trägt die Justiz Mitschuld am Tod von Carolin. Maik S. hätte nie freikommen dürfen, sagt Jörg Scholz. „Wenn er jetzt verurteilt wird, soll er für immer hinter Gitter.“

Die Eltern können es sich nicht leisten, sich gedanklich mit dem mutmaßlichen Täter zu befassen. Kraftverschwendung. Schon der Prozess sei ein ungeheure Anstrengung, die sie nur mit professioneller Hilfe bewältigen: „Es ist wie das Absteigen in eine Schlucht, die Therapeutin sagt uns, wo wir uns festhalten können. Ein Schritt daneben und man stürzt ab.“

Ganz still sind die Zuschauer im Saal, als ein Polizist von der Spurensicherung am Tatort berichtet. Als Maxe, Carolins Freund, und Vater Scholz zur Suche direkt nach ihrem Verschwinden befragt werden.

Heute wird der Prozess fortgesetzt. „Wir stehen das durch“, sagen die Eltern fast tonlos. „Wir lernen, uns ein Gerüst für den Tag aufzubauen und uns daran entlang zu hangeln.“ Trost gibt es keinen.

NICK VOGLER




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Dienstag, 08. November 2005  |  Blickpunkt

Carolins Eltern werfen Justiz Fehler vor


Der mutmaßliche Mörder der Schülerin Carolin aus Graal-Müritz sei bereits während einer vorhergehenden Haftstrafe ständig und dauerhaft auffällig gewesen.

Rostock/Schwerin (OZ) Heute beginnt in Rostock der Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder der 16-jährigen Schülerin Carolin aus Graal-Müritz. Gestern wurden neue Fakten aus einem psychologischen Gutachten über den Tatverdächtigen bekannt. Der Mann war erst kurz vor der Tat aus dem Gefängnis entlassen worden. Während der Haftstrafe u.a. wegen Geiselnahme und Vergewaltigung sei es bei ihm „im Vollzug ständig und dauerhaft zu Auffälligkeiten gekommen“, zitiert das Magazin „Focus“ aus dem Gutachten.

Eine vorzeitige Entlassung habe Gutachterin Birte Fellert als zu riskant abgelehnt, dies könne im allgemeinen Sicherheitsinteresse nicht verantwortet werden. Die Eltern der ermordeten Schülerin haben jetzt Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Staatsanwaltschaft Stralsund eingelegt. Die Behörde habe bei der Haftentlassung des mutmaßlichen Täters nicht geprüft, ob nachträglich Sicherungsverwahrung hätte angeordnet werden können.

Carolin war am 15. Juli in der Rostocker Heide ermordet worden. An ihrer Leiche fanden sich Genspuren des Tatverdächtigen Maik S. „Offensichtlich haben die Behörden bei der Entlassung von Maik S. nicht die Tragweite der Entscheidung erkannt“, sagt Ulrich Born, CDU-Landtagsmitglied und Ex-Landesjustizminister. „Womöglich hätte Maik S. alle Voraussetzungen für eine nachträgliche Sicherungsverwahrung erfüllt.“ Er nimmt damit Bezug auf den Paragrafen 66 b im Strafgesetzbuch, nach dem Sicherungsverwahrung nachträglich angeordnet werden kann, wenn sich bis zum Ende der Haft herausstellt, dass vom Täter erhebliche Gefahren ausgehen. Born kritisiert weiter, die Therapie sei während der Haft unzureichend gewesen. Er fordert, Versäumnisse im Ministerium aufzuklären, „einschließlich personeller Konsequenzen“.

Ich kann mich zu etwaigen Vorwürfen erst nach dem Prozess äußern“, sagt Justizminister Erwin Sellering (SPD). In das laufende Verfahren dürfe er nicht eingreifen. „Wir werden bei der Prüfung der Dienstaufsichtsbeschwerde alle Erkenntnisse aus dem Prozess einfließen lassen.“

Im August hatte er erklärt, nach Prüfung des Antrags auf vorzeitige Haftentlassung habe Maik S. die Strafe bis zum Ende verbüßt. „Bei der rechtlichen Prüfung im Justizministerium, ob eine nachträgliche Sicherungsverwahrung möglich war, lagen die Akten vollständig vor.“

NICK VOGLER